Mit der Kamera von Köln nach Palästina

M i t d e r K a m e r a v o n K ö l n n a c h P a l ä s t i n a D i e L udw i g T i e t z - L e hrwe rks tat t, S E I T E 1 4 9 daraus resultierenden Gefühlsschwankungen bei den Jugendlichen und das Konfliktpotenzial im Austausch mit den Eltern zu veranschaulichen, soll im Folgenden der wohl entscheidende Punkt der eingeforderten Umorientierung und zugleich der zentrale Ort der praktischen Umsetzung zum besseren Verständnis kurz näher vorgestellt werden. Das, was von Teilnehmern der Jugend-Alija in dieser Hinsicht erwartet wurde, fasste der Hechaluz in der bereits kurz vorgestellten Broschüre „Tatsachen und Probleme Palästinas“ kompakt zusammen.188 Hier hieß es unter der Überschrift „Die Siedlungsformen in Palästina“, dass es sich bei dem dort verfolgten Weg um ein „ganz einzigartige Siedlungswerk“ mit „neuen Siedlungsformen“ handele, „die keine eigentlichen Vorläufer haben und eben nur aus der historisch-spezifischen Erscheinung des jüdischen Aufbauwerkes im Lande zu erklären“ seien. „Das Besondere dabei ist, dass die Arbeiterschaft selbst sich eigene, ihrem Wesen angepasste Siedlungsformen schafft.“189 Im Mittelpunkt der Jugend-Allija stand dabei die „Kwuza“, die - so der Text der Broschüre - „durch ihre Neuartigkeit besonders bekannt“ geworden sei. Diese kleinste Form der „Arbeitersiedlung“ war „auf völlig kollektivistischen Grundlagen aufgebaut“ und strebte an, „das Prinzip der Gemeinsamkeit in allen Bezirken des Lebens zu verwirklichen“. „Gemeinsames Eigentum, gemeinsame Verantwortung für die Führung der Wirtschaft und für die Verteilung des Erarbeiteten, kollektives Kulturschaffen sind ihre Fundamente“, die in einem konsequenten, allumfassenden Kollektivismus zum Ausdruck kamen: „Alle Erträge der 188 Es gilt zu berücksichtigen, dass der Gruppe, mit der Leopold Schönenberg ins Land kam, gar keine Zeit blieb, sich unter Hinzuziehung solcher Materialien systematisch auf die dortige Situation vorzubereiten. Die Broschüre etwa, aus der hier zitiert wird, war allein schon zur Verarbeitung in zehn „Heimabenden“ angelegt, um den Jugendlichen die Lage in Ihrer neuen Heimat näherzubringen. Es ist aber natürlich möglich, dass Leopold bereits während seines vierwöchigen Aufenthalts in Rüdnitz entsprechend vorbereitet worden war. 189 Loewy, Jugend, S. 56. Die Broschüre ist einsehbar unter https://quellen.verschwundenes-sichtbar.de/ info.aspx?id=62883. einziehen sollten, bezugsbereit gewesen. „Wir bauten dann auch die Schule auf. Die Werkzeuge usw. waren da, aber wir mussten etwa die Tische machen. Und das war auch schon unsere Arbeit.“ So begann der Palästina-Aufenthalt mit zwangsläufig zielgerichteter praktischer Arbeit und folgte - wenn zumindest in Teilen auch ungewollt - von Beginn an dem Programm der Lehrwerkstatt: „Wir haben einen halben Tag gearbeitet und einen halben Tag gelernt.“ Das Essen nahm die Gruppe im Speisesaal des Kibbuz zu sich und musste sich zunächst einmal an dessen Einfachheit gewöhnen. „Das kam uns am Anfang etwas komisch vor, denn es war immer dasselbe, nur in anderer Reihenfolge.“ Ihre Unterbringung glich tatsächlich jener in einem Internat und wies zudem die damals offenbar auch in Kibbuzim übliche „klassische“ Rollenverteilung auf: „In der Schule waren bis auf eine Sekretärin nur Jungen und Lehrer. Es gab eine ‚Hausmutter‘ und auch in der Wäscherei und anderen Bereichen arbeiteten Frauen.“187 Einen weitaus tieferen Einschnitt bedeutete für die Neuankömmlingen dagegen die Einordnung in die Ordnung des Kibbuz, dessen Infrastruktur sie ja trotz ihrer internatsmäßigen Unterbringung in Räumlichkeiten der Lehrwerkstatt - wie etwa in Form des Speisesaals - ja nicht nur nutzten, sondern auf dessen Lebensgewohnheiten und intendierten Ziele sie im Rahmen der Jugend-Alija ausdrücklich vorbereitet werden sollten. Insofern bedeutete die Ankunft in Palästina unabhängig von den Erfahrungen in Ausbildung und Unterricht einen tiefen Einschnitt und grundlegenden Perspektivwechsel, dessen Konsequenzen für viele von ihnen schwer zu akzeptieren und noch weitaus schwerer umzusetzen waren. Die in Deutschland zurückbleibenden Eltern konnten diesen gravierenden Wechsel häufig gar nicht nachvollziehen und wohl noch seltener akzeptieren. Um einerseits die Dimension der Veränderungen, andererseits aber auch die 187 Audio-Interview mit Reuwen (Leopold) Schönenberg, NS-DOK, Tk933, ab 1:08:45.

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