M i t d e r K a m e r a v o n K ö l n n a c h P a l ä s t i n a D i e L udw i g T i e t z - L e hrwe rks tat t, S E I T E 1 6 2 in dem solche Dinge verhandelt und entschieden werden sollten.220 Das alles war auf eine ganzheitliche Sicht des Gemeinschaftslebens ausgerichtet, in dessen Rahmen sich berufliche Arbeit, Ausbildung und Unterricht abspielten, zu dem aber außerdem regelmäßige Heimabende und „freie Aussprachen“ (Sichot) zählten. All diese Komponenten fügten sich zu den Grundlagen zusammen, die die Basis von Ausbildung und Erziehung in Lehrgütern und -werkstätten bildeten.221 Diese galt es im Zuge der Jugend-Alija natürlich kontinuierlich den konkreten Bedingungen in Palästina anzupassen. Die in diesem Kontext früh getroffene Entscheidung, die Jugendlichen in Kibbuzim aufzunehmen, beruhte auf mehreren Überlegungen: Die dort praktizierte Form des Zusammenlebens in selbstorganisierten, auf einer sozialistischen Agenda basierenden Gemeinschaften, die ihren gesamten Alltag kollektiv organisierten, entsprachen bis in Details den Vorstellungen der Verantwortlichen der Jugend-Alija. Hierzu zählten etwa gemeinsame Aktivitäten wie das Essen im Speisesaal222, Wäschedienste und miteinander geteilte Kleidung, das gemeinschaftliche Anlegen eines Gemüsegartens oder gemeinschaftliche Kassen. Erst im Erwachsenenalter trat dann auch die gemeinsame Erziehung aller im Kibbuz lebender Kinder hinzu. Die Finanzierung dieses Programms sicherten im Zuge der Jugend-Alija die Eltern der Jugendlichen und jüdische Organisationen gemeinsam, während diese selbst in die tägliche 220 Auch Leopold Schönenberg wurde während seines Aufenthalts in Jagur Mitglied in einem solchen Waad. Am 15.5.1938 schrieb sein Vater: „Und nun (…) bist Mitglied eines Waad geworden. Da müssen wir ja bald Respekt vor Dir haben.“ (Max Schönenberg an Sohn Leopold, 15.5.1938.) 221 Vgl. Pilarczyk, Gemeinschaft, S. 121ff. 222 Durch die Mitnutzung des Speisesaals wurden die Jugendlichen der Ludwig Tietz-Lehrwerkstatt zum Bestandteil des Kibbuz, denn der „Chadar Ochel“, wie er im Hebräischen heißt, ist weit mehr als nur eine Kantine. „Er ist der Gemeinschaftsort, an dem sich die Kibbuznikim zum Essen, zu Zusammenkünften und Diskussionen, zur Organisation des täglichen Arbeitsplans und auch zum Tanzen, zu Lesungen, Gedenk- und Feiertagen versammeln. Zu jeder Tages- und Abendzeit ist der Speisesaal ein belebter öffentlicher Raum. Er repräsentiert das gesellschaftliche Zentrum eines jeden Kibbuz’.“ (Kibbuz und Bauhaus, S. 76f.) Geme i nschaftsleben und Pubertät Natürlich lagen den Eltern die berufliche Zukunft ihrer Söhne und deren gelungene Integration in ihre neue Heimat sehr am Herzen, wobei die Kombination aus großer räumlicher Distanz und deren Übertritt ins Erwachsenenalter ihre Einflussmöglichkeiten auf ein Mindestmaß beschränkte. Immerhin aber konnten die Erziehungsberechtigten im Fall der Ludwig Tietz-Lehrwerksstatt aufgrund des dort verfolgten pädagogischen Konzepts und der Aufsicht durch jüdische Organisationen in diesen Punkten zumindest ein Stück weit darauf vertrauen, dass ihren Wünschen zwar nicht eins zu eins, aber in ausreichendem Maße Rechnung getragen würde. Das war bei etwas guten Willen und entsprechendem Engagement in Fragen der Ausbildung, der Unterbringung und des Schulalltags möglich, stieß jedoch in einem anderen, den meisten Eltern aber besonders wichtigen und zugleich hochsensiblen Bereich aber immer wieder an Grenzen und schürte die elterlichen Sorgen in erheblichem Maße. Die Jugendlichen hatten ihr Elternhaus zu einem Zeitpunkt verlassen, an dem die Begleiterscheinungen der Pubertät immer deutlicher zutage traten. Diese durchlebten die Heranwachsenden in Jagur nun im Rahmen eines bis dahin ungewohnten „Gemeinschaftslebens“ ohne vertraute (erwachsene) Ansprechpartner, wodurch Probleme und Konflikte geradezu vorprogrammiert waren. Diese neu entstehenden „Gemeinschaften“ dienten im Rahmen von Hachschara und Jugend-Alija der „Institutionalisierung der Kollektiverziehung“ und wurden daher zu einem von deren zentralen Erziehungsmitteln - „mit dem Ziel der Schaffung einer Volksgemeinschaft in Palästina“. Hierzu wurden eigene Institutionen ins Leben gerufen, in deren Rahmen die Interessen der Teilnehmenden mit Blick auf eine gemeinsamen Freizeitgestaltung oder die Arbeitseinteilung thematisiert wurden. Dabei war ein selbst zu wählender Ausschuss („Waad“) vorgesehen,
RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=