M i t d e r K a m e r a v o n K ö l n n a c h P a l ä s t i n a D i e L udw i g T i e t z - L e hrwe rks tat t, S E I T E 1 6 4 alen Zusammensetzung der Bewohner mitunter recht rau zuging. Dabei dürften diese ihrerseits in aller Regel wenig Anlass gesehen haben, auf die Befindlichkeiten neuer, zudem junger Gäste Rücksicht zu nehmen und ihren alltäglichen Sprachgebrauch ebenso wie ihr Verhalten deren zumeist gutbürgerlich geprägten Gewohnheiten anzupassen. - Das führte, wie am Beispiel Ernst Loewys gezeigt, bei vielen der Neuankömmlinge zu der sich selbst überlegen wähnenden Einschätzung, sie hätten es im Kibbuz mit „Proleten“ zu tun. Ein besonders schwierig zu handhabenden Komplex stellte das weite Feld der Sexualität dar, auf dem stark beunruhigte Eltern ihre pubertierenden Söhne nun schutzlos gefährlichen Einflüssen ausgesetzt sahen. Bei den Schönenbergs hatte das zur Folge, dass am gleichen Tag, an dem Großmutter Kaufmann diesbezüglich vorsichtig mahnende Worte an ihren Enkel richtete, Vater und Mutter das in damaligen Zeiten gern unterdrückte Thema beherzt aufgriffen und ausführliche Stellungnahmen zu Papier brachten. Grund hierfür war offenbar ein Brief, in dem Leopold über Zustände und Verhaltensweisen im Kibbuz und über daraus resultierende Gespräche berichtet hatte, die die Jugendlichen in deren Freizeit führten. So sehr sie es auch begrüße, so schrieb die besorgte Mutter Erna, „daß Ihr Eure Gedanken und Erwägungen mit Euren Eltern besprecht, so sehr bedauere ich es, daß Ihr durch Euer frühes Fortgehen vom Elternhaus schon von Problemen sprecht, für die Ihr noch nicht reif seid“. Auslöser von Unruhe und Sorgen war augenscheinlich die im Kibbuz in Jagur praktizierte sexuelle Freizügigkeit, die unter anderem in Beziehungen ihren Ausdruck fand, die in sehr jungen Jahren geschlossen wurden. Wenn die Dinge dort „wirklich so sind, wie Ihr sie schildert, dann möchte ich Euch – trotz allem – lieber in einem orthodoxen Kreis sehen“. Denn das, was Leopold - und offenbar auch Otto Spier - nach Köln berichtet hatten, ging ihr trotz ihrer zionistischen Grundorientierung eindeutig viel zu weit. „Ein mit ihm umfangreiche briefliche Diskussionen, von denen sich eine um das Grundsatzthema „Egoismus“ drehte, um sich dann mit der Kibbuz-Bewegung und der in ihr praktizierten Wirtschaftsform auseinanderzusetzen. „Wir kamen auf diese Frage, weil wir über Kibbuz und Privatkapitalismus uns klar werden wollten. Wenn alle Menschen ideal wären, wäre jede Wirtschaftsform gut und berechtigt. Aber neben den Menschen mit anständiger Gesinnung, die das Gute um des Guten willen wollen und tun, gibt es immer zahlreiche, die ihr Schäfchen ins Trockne bringen wollen.“ So würden viele Menschen nicht deshalb in einen Kibbuz gehen, „weil sie im Kibbuz die ideale Wirtschaftsform sehen“, sondern ganz im Gegenteil aus dem Grund, dass „sie als einzelne im schweren Wirtschaftskampf sich nicht behaupten können“. Solchen Bewohnern unterstellte Max Schönenberg offenbar per se ausschließlich negative Absichten: „Diese Leute werden zum großen Teil ihre egoistische Gesinnung nicht abstreifen, sie werden bei den Beratungen im Kibbuz sich davon leiten lassen, ob die geplanten Beschlüsse ihnen – nicht aber dem Kibbuz – günstig sind.“ Er blieb gegenüber den Zielen der Kibbuz-Bewegung also ein großer Skeptiker, bemerkte aber schnell, dass sich sein Sohn und dessen Gruppe in Jagur im Rahmen ihrer Eingewöhnung zunächst ganz anderen Herausforderungen zu stellen hatten. „Zerbrich Dir ‘mal vorläufig noch nicht den Kopf über die für Dich richtige zukünftige Lebensform. Werde ein tüchtiger Mensch mit anständiger Gesinnung. Wenn Du reifer wirst, klärt sich all das, was Dir jetzt noch schwierig scheint.“226 Stattdessen trat zunächst ein zwar mit dem Gemeinschaftsleben eng zusammenhängendes, aber dennoch gänzlich anderes Thema in den Fokus der elterlichen Sorgen, das Emma Kaufmann früh angedeutet hatte. Ein Kibbuz war zunächst ja vorrangig eine von Erwachsenen dominierte und bestimmte Welt, in der es entsprechend der kargen Lebensumstände und der sozi226 Max Schönenberg an Sohn Leopold, 9.5.1937.
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