Mit der Kamera von Köln nach Palästina

M i t d e r K a m e r a v o n K ö l n n a c h P a l ä s t i n a D i e L udw i g T i e t z - L e hrwe rks tat t, S E I T E 1 6 6 nenberg im Dezember 1937 zu einer neuerlichen grundsätzlichen Stellungnahme veranlasst sah. Grund dafür war ein Brief von Otto Spier, der in Köln für erhebliche Aufregung sorgte. Es habe ihnen allen, so schrieb er, „einen schmerzhaften Stich“ versetzt, „als wir Ottos Bericht lasen, daß unter den Insassen Eures Heims – ich mag das Wort Kameraden oder Chawerim in diesem Zusammenhang gar nicht brauchen – unrechte Dinge geschehen“ würden. „Otto schreibt: ‚Ich sehe wirklich bald ein, daß es besser gewesen wäre, wenn mit uns zur gleichen Zeit Mädchen gekommen wären. Wenn sie jetzt nachträglich kämen, wäre es ein Verbrechen.‘“ Wenn ihm, wie er ausdrücklich betonte, auch nicht klar geworden sei, was Otto mit dieser letzten Bemerkung habe zum Ausdruck bringen wollen229, formulierte Max Schönenberg nochmals seine Ansichten zum Themenkomplex jugendlicher Sexualität, von denen hier einige Teile ungekürzt wiedergegeben werden sollen: „Ich habe mit Dir, lieber Pold, mich mündlich und schriftlich darüber unterhalten, daß für Euch junge Menschen jetzt in körperlicher und seelischer Hinsicht schwere Zeiten kommen. Sie sind für Euch jetzt wesentlich schwerer, weil Euch das Elternhaus fehlt. Und doppelt schwer, wenn in Eurer Umgebung sich ungünstige Einflüsse breit machen. Beinahe wäre mir das Wort von schlechten Vorbildern aus der Feder geflossen. Aber gerade das sollen sie Euch nicht sein. Es ist eine ganz natürliche Angelegenheit, daß sich in Eurem Alter der Geschlechtstrieb regt, daß Eure Gedanken sich auf diese Dinge lenken. Primitive Menschen können diesem Naturtrieb keinen Wider229 Ob sich dahinter - was gut möglich erscheint - ein Hinweis auf etwaige homosexuelle Beziehungen in den Ludwig Tietz-Lehrwerkstätten verbarg, muss aufgrund der aktuellen Quellenlage völlig offen bleiben. Es haben sich bislang jedenfalls keine derartigen Fälle nachweisen lassen. Die von Otto Spier an seine bis November 1938 in Köln wohnenden Eltern geschickten Briefe, die etwas Licht ins Dunkel hätten bringen können, haben sich leider ebenfalls nicht erhalten. Bei seiner Befragung durch das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln im August 1989 erklärte er hierauf angesprochen, dass sämtliche schriftlichen und bildlichen Dokumente der Familie dadurch verloren gegangen seien, dass die beiden Lifts, die seine Eltern im Zuge der Emigration nach Palästina im November 1938 sorgfältig gepackt und verschickt hätten, auf dem Weg zu ihrem Zielort - wohl als direkte Folge des Pogroms - beschlagnahmt und nach Deutschland zurückgeführt worden seien. Damit war deren Inhalt komplett verloren. die geistige Weiterentwicklung, die Höherentwicklung“ leide darunter durchaus. Zur Erläuterung seiner Theorie schweifte er in die Pflanzenwelt ab. „Wenn ein junger Obstbaum zu blühen anfängt, so verhindert der Bauer, dass er Früchte trägt. (…) Grund: Der Baum bleibt schwach, wenn er sich vorzeitig überanstrengt. Das ist im Grunde genommen dasselbe, was ich vorher meinte.“ Nach diesem warnenden Beispiel brachte Max Schönenberg seine Hoffnung zum Ausdruck, „dass Du und Deine wirklichen guten Freunde so viel Selbstbeherrschung aufbringt und Euch von ungesundem Denken und Tun frei haltet“. Wenn man eine daraus resultierende sexuelle Abstinenz voraussetzen könne, könne auch „die Frage der Ehe viel ruhiger“ besprochen werden. Aber auch in diesem Punkt forderte er von seinem Sohn in erster Linie Zurückhaltung und bewussten Abstand von etwaigen gegenteiligen Beispielen in dessen direkter Umgebung. „Es ist kein Zweifel, daß eine doppelte Moral im Grunde Unmoral ist, daß eine verantwortungslose Ehe keine wirkliche Ehe, keine sittlich berechtigte Einrichtung ist. Eine Ehe darf man anständiger Weise nur eingehen, wenn man den Willen hat, für sein ganzes Leben zusammen zu bleiben und einen gemeinsamen Hausstand zu gründen. Ein Zusammenleben vor der Ehe ist deshalb unmoralisch, weil die Frau den zukünftigen Mann, der Mann die zukünftige Frau betrügt, da beide nicht mehr rein, unberührt sind.“ Aber auch in diesem Punkt blieb den weit entfernten Eltern nichts weiter, als ihrem Sohn ihre moralischen Vorstellungen näher zu bringen, um ihm abschließend den Rat zu erteilen, „über diese Dinge nicht zu viel zu diskutieren“. Denn: „Ihr regt Euch damit geschlechtlich auf.“228 Es hat den Anschein, als ob sich „diese Dinge“ in Jagur in den nächsten neun Monaten - zumindest aus dem Blickwinkel der Eltern - nicht nur nicht gebessert, sondern nochmals deutlich verschlechtert hätten, so dass sich Max Schö228 Max Schönenberg an Sohn Leopold, 20.3.1937.

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